Brief an Marie

Brief an Marie

  30. Juni 2020

  Unser Blog 

Meine liebe Marie

Du hattest wirklich keinen leichten Start ins Leben.
Du kamst drei Monate zu früh mit 960g auf die Welt und Du brauchtest eine Operation am offenen Herzen. Was dazu führte, dass wir fast 8 Monate im Krankenhaus verbracht haben, bevor Du mit uns nach Hause kommen durftest.

Ein paar Tage nach Deiner Geburt hatte eine aufmerksame Krankenschwester auf der Intensivstation den Verdacht, dass Du das Down-Syndrom haben könntest und informierte die Ärzte.

Weißt Du, ich bin ein Mensch, der sich erst dann mit einer Herausforderung des Lebens beschäftigt, wenn diese real wird und nicht schon, wenn einfach nur etwas vermutet wird. Also war dieser Verdacht für mich damals eigentlich gar nicht so wichtig und ich konzentrierte mich voll und ganz auf Dich und dachte gar nicht daran. Und wenn es so wäre, dann wäre es eben so.

Eines Tages ging ich, wie jeden Morgen zu Dir in die Intensivstation. Da sah ich einen Arzt, der Dich gerade behandelt hat. Ich sah ihn an und wusste, was er mir gleich mitteilen würde. „Marie hat das Down-Syndrom“, hat er gesagt. Und kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wollte er schon wieder gehen. Er meinte, dass er mich jetzt mal alleine lassen wolle, damit ich die Diagnose „verdauen“ kann. Doch bevor er sich umdrehen konnte, forderte ich ihn auf mir zu erklären, was das für Dich und mich bedeutet und was da auf uns zukommen kann. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihm die Situation unangenehmer war als mir. Er drückte mir ein paar Zetteln mit Info Material in die Hand und verschwand.

Ich griff zum Telefon und rief Deinen Papa an. Und ich erinnere mich noch genau an seine Worte: „Aha, … na gut, dann gehört das auch zu unseren Aufgaben.“
Weißt Du Marie,… Das will ich Dir auf Deinen Lebensweg mitgeben.
Eine Aufgabe ist niemals eine Aufforderung aufzugeben.
Es ist ganz einfach eine Herausforderung und kein Problem.
Aufgeben käme einem Stillstand gleich. Undenkbar für mich!

Das gehört zu meiner Lebenseinstellung, ich möchte mich weiterentwickeln und nicht stehen bleiben.

Ja, es war einer dieser Tage, der dein Leben verändert.

Diese Tage kenne ich nur zu gut. Es sind die Tage, an die man sich immer erinnern wird.

Es sind die Situationen, wo das Leben für dich entscheidet und nicht du selbst. Man kann sich dagegen wehren oder man kann sie annehmen.
Ich hadere nicht mit meinem Schicksal, ich habe immer alles angenommen.
Auch wenn es manchmal sehr schwer war.

Jede bewältigte Herausforderung macht dich stärker.

Jede akzeptierte Niederlage schwächer.

So hat mich das Leben Schritt für Schritt für die nächste Aufgabe vorbereitet.

Ich habe die Sicherheit in mir, meinen „Rucksack“ tragen zu können – und das Schönste dabei ist, ich empfinde meinen Rucksack nicht als Last.
Da sind so viele Erfahrungen und Erinnerungen drinnen, die mich sehr bereichert haben.

Und auch in diesem Moment habe ich mich nicht alleine gefühlt.

Irgendwie wusste ich was zu tun ist. Ich musste die Situation zuerst für mich lösen. Innen geht bei mir immer vor außen. Immer.

Löse was dich aufwühlt für dich und in dir. Danach ist alles offen.

Nach einer Zeit wollte ich mehr darüber erfahren, was das Down Syndrom für Dich und mich so mit sich bringen wird.

Also habe ich mich schlau gemacht, ob es im Waldviertel eine Gruppe gibt, wo man sich informieren und austauschen kann. Aber die gab es nicht.

Also musste ich selbst etwas tun.

Für Dich Marie – für mich und unserer Familie, aber auch für all unsere Mitmenschen.

Deshalb habe ich HandsUpForDown gegründet.

Unser Verein, der zeigen will, dass ein Leben mit einem Menschen mit Down-Syndrom nichts Außergewöhnliches ist. Keine Last – sondern ein Geschenk.

Es ist alles ok, niemand braucht deshalb Ängste oder Sorgen haben und jeder ist eingeladen sich selber ein Bild davon zu machen.

Wir alle haben unsere Aufgaben und wir sollten uns gegenseitig unterstützen.

Wir alle sind Individuen mit unterschiedlichen Charakteren, Persönlichkeiten und Eigenschaften. Das macht uns ja so interessant.

Und ob wir es wollen oder nicht… Wir alle stehen in Beziehungen zueinander. Und manchmal braucht es nun mal auch Anstrengung, um eine gut funktionierende Beziehung zu leben.

Probleme entstehen ja erst dann, wenn jemand zu werten oder vergleichen beginnt.

Also stellen wir nicht das eine Leben über das andere. Lassen wir nicht zu, dass wir in Kategorien denken.

Das Schönste wäre für mich, wenn dieses Bewusstsein in den Menschen erwächst und sie aktiv an dem Prozess teilhaben würden.

Die Inklusion und das JA zum Leben.

Alles Neue bringt vielleicht anfangs Unsicherheit mit sich, aber prinzipiell geht es nur um die Liebe. Wenn man das verstanden hat, dann ist man frei!

Wenn ich heute zurückdenke, sehe ich eine große Herausforderung, welche jeden einzelnen unserer Familie in Geduld, Ausdauer, Konzentration und Disziplin üben ließ.

Dadurch sind wir alle enorm gewachsen und unser Blick hat sich auf das Wesentliche fokussiert: Die Liebe zum Leben.

Wenn ich heute in Deine Augen seh liebe Marie, bin ich im Herzen sehr berührt.

Du hast Dich trotz aller Umstände für das Leben entschieden.

Du bist eine Kämpferin. So wie Mami.

Ich spüre Zufriedenheit, Glück und tiefe Liebe. Und einfach „Sein“.

Ich bin sehr glücklich und froh, dass Du, liebe Marie, zu uns gekommen und geblieben bist.

Ich liebe das Leben in all seinen Facetten!

Und ich liebe Dich.

Kathrin Jungwirth,
ist Mutter von 3 Kindern;
Marie, die jüngste, kam als Frühchen mit Down-Syndrom zur Welt.


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